„Zieloffene Suchtarbeit bedeutet, mit Menschen an einer Veränderung ihres problematischen Suchtmittelkonsums zu arbeiten, und zwar auf das Ziel hin, das sie sich selbst setzen.“
Joachim Körkel
Nur ein Bruchteil der alkoholkranken Menschen in Deutschland landet überhaupt in einem Hilfesystem. Abstinenzorientierte Hilfsangebote erreichen gerade einmal 15 Prozent der Menschen mit einer Alkoholerkrankung. Der Caritasverband für Stuttgart e.V. geht in seinem Bereich der Sucht- und Sozialpsychiatrischen Hilfen jetzt neue Wege: und zwar mit ZOS, der Zieloffenen Suchtarbeit. Die Hoffnung ist, durch das zieloffene Arbeiten und eine Abkehr vom Paradigma der Abstinenz mehr Menschen mit einer Suchterkrankung zu erreichen und ihnen letztlich helfen zu können. In einem dreijährigen Implementierungsprozess hat man sich beim Verband damit beschäftigt, was es für MitarbeiterInnen und KlientInnen heißt, zieloffen zu arbeiten, was sich dafür an den vorhandenen Strukturen ändern muss und welche Qualifikationen die Mitarbeitenden der Sucht- und Sozialpsychiatrischen Hilfen brauchen, um professionell zieloffen arbeiten zu können. Nun ist dieser Prozess abgeschlossen. Zu einem Fachtag in der Stuttgarter Jugendherberge begrüßte der Caritasverband unter dem Motto „Zieloffene Suchtarbeit. Eine Frage der Selbstbestimmung“ annähernd 200 Teilnehmer. Es ging darum, die druckfrische Konzeption zur Zieloffenen Suchtarbeit der Caritas vorzustellen, zu erläutern, was sich genau hinter dem Begriff der Zieloffenen Suchtarbeit verbirgt, und was es in der Praxis bedeutet, zieloffen zu arbeiten.
Was ist jetzt genau anders? Habt ihr mit euren Klienten denn vorher nicht geredet und nach ihren Wünschen gefragt? Vor allem in den fünf Werkstattgesprächen zu verschiedenen Themen rund um ZOS ging es den Fachtags-Besuchern darum, zu verstehen, was genau ZOS ist. Nämlich eine offene Haltung gegenüber den Zielen der KlientInnen und vor allem gegenüber ihren Ambivalenzen, die gerade bei Menschen mit einer Suchterkrankung so groß sein können. Mit dem zieloffenen Arbeiten begeben sich die Mitarbeitenden näher an die Realitäten der Menschen, ihre Ziele rücken mehr in den Mittelpunkt. Die Abstinenz kann, muss aber längst nicht mehr das Ziel sein. Wichtig ist, dass Menschen mit einer Suchterkrankung offen und ohne Angst vor Sanktionen äußern können, welche Vorstellung sie bezüglich ihres Konsums haben. Aufgaben der Mitarbeitenden, die bei der Caritas in acht Fachdiensten in den Bereichen Sucht und Sozialpsychiatrie arbeiten, ist es, bei den KlientInnen eine Motivation zur Veränderung zu wecken. Für sie kamen in den vergangenen drei Jahren insgesamt 700 Fortbildungstage zusammen, in denen sie sich mit Gesprächstechniken zur klientenzentrierten Zielklärung sowie verschiedenen Behandlungsmöglichkeiten beschäftigt haben. Dabei immer im Mittelpunkt: die Wünsche der KlientInnen. Denn größtmögliche Selbstbestimmung ist das Schlüsselwort, das Voraussetzung dafür ist, dass die Motivation zum Erreichen selbst gesteckter Ziele erhalten bleibt und Behandlungen letztlich erfolgreich sind.
Dass die Frage der Selbstbestimmung jedoch aus verschiedenen Gründen eine große Herausforderung ist, kam beim Fachtag im Rahmen einer Diskussionsrunde heraus, die Christa Niemeier von der Landesstelle für Suchtfragen moderierte. Im Gespräch mit Dr. Klaus Obert, Leiter des Bereichs Sucht- und Sozialpsychiatrische Hilfen bei der Caritas, Prof. Dr. Joachim Körkel, der seit Jahrzehnten gegen das Abstinenz-Paradigma angeht, ein Programm zum Kontrollierten Trinken entworfen hat und den Caritasverband bei der Implementierung von ZOS begleitet hat, sowie Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Hans Thiersch, der den Begriff der Lebensweltorientierung in der sozialen Arbeit geprägt hat, kam schnell heraus: Die Selbstbestimmung ist eine heikle Sache. So argumentierte Körkel mit der Grundsatzfrage danach, wie Menschen ticken. Seiner Ansicht nach sei das bei Menschen mit einer Suchterkrankung nicht anders als bei jedem anderen: Sie wollten selbst bestimmen und das werde durch ZOS möglich, weil man sie damit „in den Kreis der würdevoll zu behandelnden Menschen zurückholt“. Doch der Grat zwischen Selbst- und Fremdbestimmung sei schmal, sagte Obert. Man müsse ständig reflektieren, in Konfrontation mit den KlientInnen gehen und dürfe auch nicht so tun, als würde man auf Augenhöhe verhandeln. Und auch, wenn man keinen Menschen aufgeben dürfe, müsse man doch manchmal akzeptieren, dass alle Bemühungen scheitern und es eben nicht klappt. Schon allein, um nicht „die Unheilbaren“ zu produzieren. Und Thiersch warf die Frage danach auf, was denn der eigene Wille eigentlich sei. Den könne jeder Mensch nämlich nicht allein in sich klären. Vielmehr sei das, was man wolle, abhängig vom jeweiligen Umfeld und der Frage, ob das, was man wolle, wirklich den eigenen Möglichkeiten entspreche oder nur ein faules Ausweichen sei. Nicht zuletzt stelle sich auch immer die Frage, ob die eigenen Vorstellungen umsetzbar seien oder es Grenzen des Tolerablen gebe. Dabei, sagte Thiersch später dazu in einem der Werkstattgespräche, werde das gesellschaftliche Klima zunehmend repressiv: „Früher gab es Menschen, denen geholfen werden musste. Heute sieht man sie als riskant.“ Diesem Klima setzt die Zieloffene Suchtarbeit ihre eigene Haltung entgegen: Im Mittelpunkt steht der ganze Mensch, dessen Erkrankung im Wechselseitigen Zusammenspiel von somatisch-genetischen, psychischen, kulturellen uns sozialen-interaktiven Faktoren gesehen wird, selbst Experte seiner Sache ist und damit auch selbst die Entscheidungen trifft. Der Paradigmenwechsel vom Abstinenzgebot zu einer zieloffenen Haltung, hatte Obert bereits eingangs in seiner Begrüßung gesagt, sei ein mühseliger Prozess. Beim Caritasverband solle die offene Haltung ein selbstverständlicher Bestandteil der Arbeit mit Suchtkranken werden.
Wie dieses zieloffene Arbeiten schon jetzt beim Caritasverband für Stuttgart aussieht, schilderten bei den Werkstattgesprächen Mitarbeitende aus der Suchthilfe und aus der Sozialpsychiatrie an Beispielen aus ihrer Praxis. Die konkreten Arbeitsmittel dazu, eine Checkliste und ein Kartenset mit den verschiedensten Suchtmitteln, stellte Matthias Nanz vom Institut für innovative Suchtbehandlung und Suchtforschung (ISS) vor, an dem auch Körkel tätig ist. Anhand dieser Materialien konnten die Fachtags-BesucherInnen selbst Zielabklärungsgespräche führen.
Über den Implementierungsprozess sprachen Sabine Pohlner, die das Projekt ZOS beim Caritasverband geleitet hat, sowie Organisationsentwickler Prof. Dr. Gerhard Wirner. Beide führten aus, wie arbeits- und zeitintensiv ein Strukturwandel ist, wie ihn die Einführung von ZOS bei der Stuttgarter Caritas mit sich bringt. Denn mit Schulungen für die Mitarbeitenden sei es allein nicht getan. Es gelte, Routinen des Wahrnehmens und Handelns zu durchbrechen, neue Standards und Angebote zu gewinnen und neue Muster zu generieren. Besonders wichtig sei dabei die Kooperation der einzelnen Stellen und Fachdienste. Und nicht zuletzt habe man auch gegen Vorbehalte ankämpfen müssen. Denn laut einer Masterarbeit einer Studentin, die im Zuge der Implementierung entstand, befürchteten 20 Prozent der befragten Mitarbeitenden, dass die Abstinenz als Ziel durch ZOS geschwächt werde.
Viel Anerkennung für den Einsatz der Mitarbeitenden im Rahmen des Implementierungsprozesses gab es von Caritasvorstand Uwe Hardt. In seinem Grußwort blickte er mit Bezug auf die Publikation anlässlich des 100-jährigen Bestehens der Caritas in Stuttgart in diesem Jahr auf die Entstehung der Suchthilfen zurück. Mit einer Portion Humor erkannte er, dass schon damals, als 1927 die erste Trinkerfürsorgestelle eröffnet wurde, zieloffen gearbeitet wurde – nämlich in der Süßmostberatung, in deren Rahmen auch Vorträge zur „gärungsfreien Früchteverwertung“ angeboten wurden. Das Abstinenzgebot, sagte Hardt mit einem Augenzwinkern, sei dann später gekommen.
Gehalten hat es sich aber umso hartnäckiger. Entsprechend wünschte sich Sozialbürgermeister Werner Wölfle in seinem Grußwort, dass es in der öffentlichen Wahrnehmung bald keine Probleme mehr mit dem Verständnis von ZOS gebe und das Thema eine größere Akzeptanz erfahre. Christina Rebmann, Leiterin des Referats 55 „Psychiatrie, Sucht“ am Ministerium für Soziales und Integration betonte, dass die Abstinenz als Ziel ja nicht aufgegeben, sondern um zieloffenes Arbeiten ergänzt werde. Die Folge daraus sei, dass insgesamt mehr Menschen erreicht würden. Mehr Menschen mit einer Suchterkrankung, denen geholfen werden kann.