Wohnungslosen Menschen zuerst und ohne Vorbedingungen eine eigene Wohnung geben - diese simple Idee steckt hinter Housing First. Seit 2022 wird das auf vier Jahre angelegte Modellprojekt auch in Stuttgart umgesetzt - jetzt konnte die 25. der insgesamt 50 geplanten Wohnungen vermittelt werden: 17 alleinstehende Personen, drei Paare und fünf Familien mit insgesamt acht Kindern konnten ein neues Zuhause finden. Das Projekt wird von einem Trägerverbund umgesetzt und durch die Landeshauptstadt Stuttgart und die Vector Stiftung finanziell gefördert. Etwa die Hälfte der vermittelten Wohnungen stammt aus dem Bestand des Wohnungsunternehmens Vonovia, das 2023 eine Kooperationsvereinbarung mit Housing First geschlossen hat.
Housing First kehrt das bisherige System der Wohnungsnotfallhilfe um: Am Anfang steht die Vermittlung des wohnungslosen Menschen in eine eigene Mietwohnung mit unbefristetem Mietvertrag. Die Gründe für den Wohnungsverlust werden erst danach geklärt und bearbeitet. Damit kommen auch diejenigen Menschen für eine Vermittlung in Frage, die in der "normalen" Wohnungsnotfallhilfe durchs Raster fallen würden. Trotz des angespannten Stuttgarter Wohnungsmarktes konnte das Projektteam bislang insgesamt 40 Menschen zu einem sicheren Dach über dem Kopf verhelfen: 13 der vermittelten Wohnungen stammen von Vonovia, fünf Wohnungen von privaten Vermieter_innen, vier Wohnungen vom Bau- und WohnungsVerein Stuttgart (BWV), zwei Wohnungen von der Stuttgarter Wohnungs- und Städtebaugesellschaft (SWSG) und eine Wohnung von der Ambulanten Hilfe e.V.
Bis auf einen Projektteilnehmer, der seinen Wohnraum ordentlich und ohne Mietschulden gekündigt hat, leben bislang alle Haushalte in den ihnen vermittelten Wohnungen. "Es zeigt sich, dass die Menschen aus der Sicherheit und Geborgenheit einer eigenen Wohnung heraus ihre Probleme angehen können", sagt Raphael Graf von Deym, Vorstand beim federführenden Projektträger Caritasverband für Stuttgart. "Entscheidend dabei ist, dass ‚Housing First‘ nicht ‚Housing Only‘ bedeutet. Die zum Projekt gehörende Sozialarbeit und die Alltagsunterstützung durch Wohnhelferinnen und -helfer ist zwar freiwillig, wird jedoch rege in Anspruch genommen. So kann bei aufkeimenden Problemen frühzeitig reagiert werden." Die Mitarbeitenden von Housing First besuchen die Klient_innen oft Zuhause und bieten Unterstützung bei der Bewältigung des Alltags.
Das mittlerweile sechsköpfige Projektteam von Housing First zieht eine durchweg positive Zwischenbilanz: "Die Menschen können sich auf das Angebot von Housing First Stuttgart einlassen, weil sie niemand dazu zwingt. Sie entscheiden selbst über die Themen und die Intensität der Beratung", sagt Katharina Rudel von Housing First. Die Mitarbeitenden unterstützen beispielsweise dabei, einen Kitaplatz zu finden, sie vermitteln Beratung bei Schulden, helfen bei der Anmeldung in einer Entzugsklinik oder bei der Jobsuche. Der Hauptanteil der Sozialarbeit wird für die Kommunikation mit Behörden wie zum Beispiel dem Jobcenter in Anspruch genommen. Katharina Rudel erklärt: "Gerade Menschen, die viele Jahre keine eigene Wohnung mehr hatten, freuen sich darüber, wenn das neue Dach über dem Kopf durch gemeinsame Renovierungsarbeiten und den Kauf von Möbeln nach und nach zu einem echten Zuhause wird." Da die finanziellen Mittel dafür meist knapp sind, kann Housing First durch Spendenmittel zusätzlich dabei unterstützen. Auch Alexandra L. hat über Housing First eine Wohnung gefunden und freut sich darüber: "Housing First war meine Rettung in der Not."
Die Stadt Stuttgart investiert 1,8 Millionen Euro in Housing First. Die bis zu acht Personalstellen wurden mit dem Doppelhaushalt 2022/2023 für vier Jahre bewilligt. "Housing First ergänzt die Programme im Bereich der Wohnraumakquise für Stuttgarterinnen und Stuttgarter, die es besonders schwer haben, adäquaten Wohnraum zu finden. Dazu gehören die Garantieverträge und das Programm Wohnen+ des Amts für Soziales und Teilhabe. Jede vermittelte Wohnung ist deshalb ein Erfolg. Üblicherweise steht die eigene Wohnung am Ende einer oftmals langen Hilfekette im System der Wohnungsnotfallhilfe. Dass es auch anders funktioniert, zeigt dieses unterstützenswerte Projekt. Denn hier ist die Wohnung - ein für uns alle so wichtiger Ort - der erste Schritt in einen neuen Alltag. Ich wünsche dem Projekt in der zweiten Hälfte weiterhin viel Erfolg", sagt Dr. Alexandra Sußmann, Bürgermeisterin für Soziales, Gesundheit und Integration der Landeshauptstadt Stuttgart.
Außerdem fördert die Vector Stiftung das Projekt mit 150.000 Euro. Vorständin Edith Wolf erklärt: "Als Vector Stiftung wollen wir aktiv dazu beitragen, Wohnungslosigkeit zu beenden. Neben unseren eigenen Sozialwohnungen unterstützen wir Housing First-Projekte in Baden-Württemberg. Housing First ist ein sehr guter Ansatz, um bedingungslos Wohnraum zu vermitteln, statt ‚Wohnfähigkeit‘ nachweisen zu müssen. Wir hoffen, dass sich die kommunale Wohnungsnotfallhilfe insgesamt stärker in Richtung Housing First verändert und die guten Ansätze aus ‚Housing First Stuttgart‘ verstetigt werden."
Das Wohnungsunternehmen Vonovia unterstützt Housing First Stuttgart als größter Wohnungsgeber. "Wir übernehmen seit über einem Jahr gesellschaftliche Verantwortung und helfen wohnungslosen Stuttgarter_innen, indem wir ihnen eine Wohnung zur Verfügung stellen, wann immer wir passende freie Wohnungen haben. Unsere Erfahrungen mit den Menschen sind ausnahmslos gut", so Silke Blankenhaus, Regionalleiterin Stuttgart bei Vonovia.
Bis zum Projektende sollen noch mindestens 25 weitere Wohnungen akquiriert werden. Das Ziel ist für das Team von Housing First Stuttgart klar: Die Projektteilnehmenden sollen durch die Unterstützung von Housing First dauerhaft in ihren Wohnungen leben können. Derzeit wird geplant, wie Housing First Stuttgart nach Projektende weitergeführt werden kann - hierfür wird gemeinsam mit dem Amt für Soziales und Teilhabe der Landeshauptstadt eine weiterführende Konzeption entwickelt.
INFOBLOCK:
Wohnungen gesucht!
Gesucht werden für Housing First vor allem Ein- bis Zweizimmerwohnungen für Alleinstehende, aber auch Wohnungen für Paare und für Familien im Rahmen der vorgegebenen Mietobergrenzen der Stadt Stuttgart. Wer überlegt, seine Wohnung für Housing First zu vermieten, kann sich unter der Telefonnummer 0711/1209-2717 beim Projektteam informieren. Die finanzielle Situation der Mieter_innen ist geklärt und die Vermieter_innen haben stets eine Ansprechperson im Team von Housing First Stuttgart. Da gute Nachbarschaft bekanntermaßen wichtig ist, wird vorab sorgfältig geprüft, dass die Mieterinnen und Mieter gut ins Wohnumfeld passen. Weitere Informationen finden Interessent_innen auch auf der Homepage www.housing-first-stuttgart.de.
Die Stuttgarter Wohnungsnotfallhilfe
Im aktuellen System der Stuttgarter Wohnungsnotfallhilfe steht eine eigene Wohnung häufig erst am Ende der Hilfekette: Zunächst muss sich der oder die Betroffene beraten lassen und seine Sucht oder psychischen Probleme angehen. Von der Notunterkunft führt der Weg in eine ambulante oder stationäre Unterbringung. Und erst am Ende gelingt - mit viel Glück - der Schritt in eine eigene Wohnung. Das aktuelle System funktioniert nur dann, wenn am Ende privater Wohnraum vermittelt werden kann - das ist aber beim angespannten Stuttgarter Wohnungsmarkt für wohnungslose Menschen kaum möglich. Die Menschen bleiben deshalb länger im Hilfesystem als nötig. Housing First kehrt dieses Prinzip um, indem bereits am Anfang die Vermittlung der wohnungslosen Person in eine eigene Mietwohnung mit unbefristetem Mietvertrag steht.
Träger und Förderer des Projekts
Getragen wird das Projekt Housing First Stuttgart von einem Trägerverbund aus der Ambulanten Hilfe e.V., der eva Evangelische Gesellschaft Stuttgart e.V., der Sozialberatung Stuttgart e.V. und dem Caritasverband für Stuttgart e.V. Die Landeshauptstadt Stuttgart ist Hauptmittelgeber für die Finanzierung des Projekts. Außerdem wird Housing First Stuttgart durch die Vector Stiftung gefördert. Das Wohnungsunternehmen Vonovia hat 2023 eine Kooperationsvereinbarung unterschrieben, gemäß der bis zum Ende des Projektzeitraums mindestens 30 der insgesamt 50 Wohnungen für Housing First zur Verfügung gestellt werden.
Das Konzept
Seit Beginn der 1990er-Jahre wird Housing First in verschiedenen Ländern erfolgreich bei der Bekämpfung der Wohnungslosigkeit eingesetzt. Die Idee stammt ursprünglich aus den USA und hat sich vor allem im englischsprachlichen Raum und in Skandinavien als fachlicher Standard in der Wohnungslosenhilfe etabliert. In Berlin wurde Housing First seit 2018 mit Erfolg als Projekt durchgeführt. Auch in weiteren deutschen Großstädten gibt es Modelle nach dem Housing First Konzept.
Obdachlosigkeit und Wohnungslosigkeit in Stuttgart
In Stuttgart leben schätzungsweise bis zu 150 Obdachlose, also Menschen die im Freien übernachten. Hinzu kommen rund 3.700 untergebrachte Wohnungslose (Stand 31.1.2023). Das sind Menschen ohne eigene Wohnung und ohne eigenen Mietvertrag. Sie leben zum Beispiel in sogenannten Sozialhotels oder in ambulanten oder stationären Einrichtungen der Wohnungsnotfallhilfe. Das Projekt Housing First richtet sich an obdachlose und wohnungslose Menschen.