Gegen das Vergessen
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Sie wurden im Sinne der "Rassenhygiene" ermordet. Mit einem besonderen und sehr berührenden Abend gedachten der Gemeindepsychiatrische Verbund und das Sozialamt der Landeshauptstadt Stuttgart im "Haus der Katholischen Kirche" der Opfer. Im Mittelpunkt stand dabei der Film "Nebel im August", der am Fall des 14-jährig ermordeten Ernst Lossa das menschenverachtende Vorgehen von Ärzten und Pflegekräften im Zweiten Weltkrieg zeigt.
Am Ende des Films stirbt Ernst Lossa hinter verschlossener Tür der Heil- und Pflegeanstalt durch einen Giftcocktail, den ihm die beflissene Kinderkrankenschwester spritzt. Der Anstaltsleiter hatte sein Todesurteil gefällt, weil der "unerziehbare" Junge die zahlreichen Chancen, die ihm geboten worden seien, nicht genutzt habe. "Asozialer Psychopath" lautete die Diagnose. Als Todesursache ist in den Akten seiner Mörder "Bronchopneumonie", also Lungenentzündung, vermerkt. Die Wahrheit ist, dass Ernst Lossa am 19. August 1944 sterben musste, weil er einer Minderheit, den Jenischen, angehörte, die in der NS-Zeit als Zigeuner und Hausierer verfolgt wurden. Das geht aus den Akten der Amerikaner hervor, die nach dem Krieg Euthanasiefälle aufgearbeitet haben. Autor Robert Domes, dessen gleichnamiges Buch die Grundlage für den Film war, hat den Fall Ernst Lossa genau recherchiert und lieferte im Anschluss an den Film gemeinsam mit Dr. Michael von Cranach noch einige Details zum Leben des Jungen aus Augsburg, der auf so grausame Weise sterben musste. Von Cranach war von 1980 bis 2006 ärztlicher Direktor des heutigen Bezirkskrankenhauses Kaufbeuren. Er hat die Verfilmung von "Nebel im August" initiiert und beschäftigt sich seit langer Zeit mit der dunklen Geschichte der Einrichtung, in deren Umgriff sich damals die Geschichte von Ernst Lossa abspielte. In der damaligen Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee wurden an den zwei Standorten im Allgäu im Rahmen der Euthanasie zahlreiche Menschen ermordet. Dazu lieferte von Cranach ein erschreckendes Detail: Die Euthanasie in Deutschland sei zunächst eine Erfindung von Ärzten gewesen, die den Nazis mir ihrem unmenschlichen Rassedenken in die Hände spielten. So seien es von Cranach zufolge auch Mediziner gewesen, die hinter dem Auslöschen zigtausender Menschenleben standen. Wer sich geweigert habe, mitzumachen, habe keine Sanktionen der Nazis befürchten müssen.
Die Akten ganz genau studiert hat auch Amalie Speidel. Die heute 87-jährige Schwester von Ernst Lossa wuchs nach dem Tod der Mutter und der Deportation des Vaters in ein KZ in einem Kinderheim auf. Auch Ernst war dort bis 1940 - bevor er in ein anderes Heim und zwei Jahre später in die Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee kam. Ihr war es wichtig, zu betonen, dass ihr Bruder eben ein ganz normaler Junge war. Ein Wildfang, wie sie bereits in früheren Interviews gesagt hatte, der sich nur schwer an Regeln hielt. Aber ein Kind, das auch in der Anstalt, in die es die Nazis gesteckt hatten, als äußerst hilfsbereit und beliebt galt. In einer bewegenden kleinen Rede bedankte sich Amalie Speidel dafür, dass das Andenken ihres Bruders durch das Buch und den Film gewahrt bleibt und sein Schicksal nicht in Vergessenheit gerät.
Die Opfer nicht vergessen. Das war auch das Anliegen der Veranstaltung. Wie Dr. Klaus Obert, Leiter des Bereichs Sucht- und Sozialpsychiatrische Hilfen beim Caritasverband für Stuttgart, eingangs gesagt hatte, sollte es an dem Abend aber auch darum gehen, die unsäglichen Geschehnisse der Vergangenheit mit der Gegenwart und der Zukunft zu verknüpfen: Wie kann man Gegenwart und Zukunft demokratisch und human gestalten? Man kann sagen, letztlich fehlte die Kraft für noch tiefer gehende Auseinandersetzung mit der Thematik. So erschreckend und berührend war, was man gesehen und erfahren hatte. Da bedurfte es nicht mehr vieler Worte.