Für Benachteiligte die Stimme erheben
Herr Hardt, »100 Jahre Gerechtigkeit« - unter diesem Motto steht das Jubiläum des Caritasverbandes Stuttgart e. V. Sind Sie zufrieden mit dem Maß an Gerechtigkeit, das Sie bis heute erreicht haben?
Nein, zufrieden sein wäre nicht die passende Beschreibung für die Ergebnisse unserer Arbeit. Wir sind froh, dass wir nah beiden Menschen effektiv und nachhaltig mitwirken, den sozialen Ausgleich zu fördern.
In welchen Bereichen lässt die Gerechtigkeit für Sie zu wünschen übrig? Wo möchten Sie ganz dringend weiterhin Dinge verändern?
Da gibt es immer noch viele Baustellen: Es gibt Nachholbedarf in Sachen Bildungsgerechtigkeit. Noch immer wird Bildung vererbt. Das darf nicht sein. Es ist zudem ungerecht, dass sich Menschen mit niedrigem oder sogar ganz normalem Familien einkommen, kaum mehr eine Wohnung leisten können. Und wenn sie das tun, dann fehlt ihnen das Geld an anderen Stellen. Überhaupt droht uns eine große Altersarmut. Insbesondere Frauen sind hier deutlich benachteiligt.
Alleinerziehende Frauen zum Beispiel haben im Alter viel zu wenig Geld zur Verfügung, ihr Leben zu sichern. Langzeitarbeitslose Menschen haben nachweislich kaum mehr einen Zugang zum Arbeitsmarkt. Dabei sprudeln die öffentlichen Kassen mit hohen Steuereinnahmen geradezu über.
Menschen mit Behinderungen können nicht gleichberechtigt am gesellschaftlichen Leben teilhaben. Hoffentlich bringt uns hier das neue Bundesteilhabegesetz weiter. Es muss mehr getan werden für die Integration von geflüchteten Menschen. Es geht nicht nur um Arbeit. Und zuletzt möchte ich die Unterversorgung von wohnungslosen Menschen nennen, sowohl in Bezug auf Winternotquartiere als auch in Bezug auf ihre Gesundheitsversorgung. In einem reichen Land wie Deutschland ist das relativ leicht umsetzbar und sollte selbstverständlich sein.
Wie haben sich die Aufgaben der Caritas im Laufe der vergangenen hundert Jahre verändert? Wo setzen Sie heute Ihre Schwerpunkte?
Gegründet wurde die Caritas vor 100 Jahren, um die große Not der Menschen im dritten Kriegsjahr des Ersten Weltkrieges zu lindern. Der Schwerpunkt damals war die Unterstützung der Armen, aber auch in der Jugendhilfe und in der Suchthilfe war man sehr frühzeitig tätig. Im Laufe der Jahre wurden die verschiedensten Einrichtungen gegründet, wie zum Beispiel in der stationären Altenhilfe oder Wohnheime für Menschen mit Behinderung, für wohnungslose Männer und für Frauen in Notsituationen.
Heute arbeiten für den Caritasverband für Stuttgart über 1800 Frauen und Männer, die Menschen in allen Lebenssituationen unterstützen und begleiten. Heute setzen wir zudem Schwerpunkte in der Hilfe für Geflüchtete und in der Beschäftigung und Qualifizierung Langzeitarbeitsloser. Wichtig ist es uns auch, dass wir lebensraumnahe Quartiersarbeit in unseren Hilfsansätzen etablieren und vor allem als Anwalt für benachteiligte Menschen die Stimme ergreifen.
Welchen Part nimmt die Caritas nach Ihrer Wahrnehmung in der Gesellschaft ein? Wie definieren Sie Ihre Rolle?
Ich glaube, wir werden wahrgenommen als ein Verband, der sich um sozialen Ausgleich in der Gesellschaft kümmert. Wir genießen durchaus ein hohes Ansehen, was in den vergangenen Jahren für einen Verband, der zur katholischen Kirche gehört, nicht immer einfach war. Wenn sich die Kirche auf die Seite benachteiligter Menschen stellt, sich um diese Menschen kümmert und das als einen Grundauftrag von Kirche lebt, dann sind wir auf dem richtigen Weg.
Wie werden die Caritas und ihre Stimme als katholischer Verband in Politik und Gesellschaft wahrgenommen? Werden Sie gehört?
Meiner Meinung nach werden wir wahrgenommen. Allerdings müssen wir uns stärker - eben auch sozialpolitisch - einmischen. Es ist wichtig sich innerhalb der ganzen Gesellschaft als sozialpolitischer Akteur meinungsbildend zu etablieren, vernetzt auf allen Ebenen des gesellschaftlichen Lebens. Unser Ziel ist die Verbesserung der Lebensbedingungen benachteiligter Menschen. Das müssen wir immer wieder ganz konkret artikulieren.
Was wünschen Sie sich für das 200. Jubiläum der Caritas Stuttgart? Was würden Sie bis dahin gerne erreicht haben?
Am liebsten natürlich Frieden auf der ganzen Welt, in der es keine Einrichtungen wie die Caritas mehr braucht. Aber um realistisch und in Bezug auf Stuttgart zu bleiben: Es wäre toll, wenn alle Stuttgarter generationenübergreifend, egal wie ihre Lebenssituation ist, zufrieden zusammen lebten. Ich wünsche mir, dass Notsituationen vermieden werden, die Menschen in Würde altern können und alle Kinder die selben Bildungschancen haben. Und gut wäre es, wenn es überall Stadtteilzentren wie unser »Haus 49« gäbe, wo sich die Menschen treffen.
mit freundlicher Genehmigung des katholischen Sonntagsblatts, Nr. 31/32, Seite 16