Eine Stimme in der stillen Krise
STUTTGART "Was ich erlebt habe, war so brutal und beängstigend, ich weiß nicht wo ich heute wäre ohne die Kindergruppe damals," sagt Nicolas Weber schonungslos. Der Drummer ist 22 Jahre alt und studiert Sozialpädagogik und das ist fast ein kleines Wunder. Denn Nicolas Kindheit war geprägt von der Drogensucht der Mutter und der Alkoholkrankheit seines Vaters. Beide waren regelmäßig viele Wochen abwechselnd im Entzug. Und auch wenn sie zuhause waren, war der Junge meist auf sich selbst gestellt. Aus lauter Ohnmacht wurde Nicolas gewalttätig, sprengte nach dem frühen Tod seiner Mutter seine Klasse und den Unterricht. Letztlich gaben die Lehrer ihn auf, er wurde von der Schule geschmissen und fand so zur Kindergruppe "Aufwind" in Singen - der Ort, der für ihn alles veränderte.
Auch wenn Nicolas Schicksal brutal ist, ein Einzelfall ist er nicht, wie die Gäste des Baden- Württemberger Landesarbeitskreises für Kinder sucht- und psychisch kranker Eltern vergangene Woche erfahren haben. Im Rahmen der COA- Aktionswoche, zu der jährlich die deutschlandweite Interessenvertretung von Kindern suchtkranker Eltern NACOA aufruft, hatte der Arbeitskreis zu einer Podiumsdiskussion eingeladen - gefolgt waren der Einladung Vertreter der etwa 30 Beratungsstellen, die zum Arbeitskreis gehören und zwei Landtagsabgeordnete, Sozialminister Manfred Lucha schickte ein digitales Grußwort.
Thema der diesjährigen Aktionswoche war "Ich werde laut", denn Kinder wie Nicolas werden nicht nur von der Politik, sondern auch von den Hilfesystemen und der Gesellschaft vergessen.
Dabei wachsen allein in Baden-Württemberg 380.000 Kinder mit einem suchtkrankern Elternteil auf: "So viele wie die Einwohner aus Ludwigsburg, Ulm, Tübingen und Wangen zusammengenommen" erklärt Sozialpädagoge Christian Denecke, der bis heute die präventiven Kindergruppen in Singen leitet. Mit zwei Trägern habe der Landesarbeitskreis vor 25 Jahre gestartet - heute seien es über 30. Nur bedingt ein Grund zur Freude, schiebt er hinterher, denn "wir erreichen mit all dieses Angeboten in Baden-Württemberg nicht Mal 1% der betroffenen Kinder." Zum einen liegt dies daran, dass präventive Angebote bei Kürzungen im Finanzhaushalt immer als erste gestrichen würden, obwohl deren Wirksamkeit durch etliche Studien bewiesen ist. Aus ihnen geht deutlich hervor, dass zwei Drittel der betroffenen Kinder selbst suchtkrank werden oder ihr Leben lang unter den Folgen ihres Heranwachsens leiden. Viele Vereine, die diese Gruppen anbieten, wie beispielsweise in Esslingen oder Reutlingen finanzieren sich rein durch Spenden. Daher können sie den Bedarf ebenfalls nicht ansatzweise decken.
Nicolas konnte geholfen werden, weil er durch den inneren Druck auffällig wurde. Diese Kinder haben eine Chance, sich dank der Prävention gesund zu entwickeln und ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Die meisten Kinder suchtkranker Eltern aber, hüten das Familiengeheimnis so konsequent, dass sie überhaupt nicht auffallen. "Sie bleiben immer unter dem Radar, damit keiner Nachfragt, wie es Zuhause geht", weiß Sozialpädagoge Denecke. So wie Gabrielle (18) - die Alkoholerkrankung ihrer Mutter nahm in der Zeit von Corona so zu, dass sich das junge Mädchen nur noch einschloss und in die Kunst flüchtete. Niemand habe eine Chance gehabt, zu bemerken, wie sie litt, erzählt sie in der Runde. Erst als sich die Mutter Hilfe holte, wurde auch die Not des Mädchens offenbar. Dieses Glück haben die wenigsten dieser Kinder. 6 Millionen leben heute als Erwachsene in Deutschland, jedes vierte bis fünfte wächst aktuell so auf.
Viel zu tun also für den Landesarbeitskreis, nicht nur im Ausbau der präventiven Kindergruppen, sondern auch damit, die Menschen in Baden-Württemberg zu sensibilisieren, um das Tabuthema aufzubrechen und den Kindern suchtkranker Eltern eine Stimme zu geben.